Gastbeitrag: Lützerath unräumbar machen

Das sonnige Feld füllt sich immer mehr mit Zelten. An zwei hängen grüne Fridays for Future Fahnen, zwischen ihnen eine Wäscheleine auf der Unterhosen in der Sonne trocken. An einem Zelt dahinter flattert eine schwarz rote Antifaflagge. Geschäftig laufen Menschen über das Feld, die meisten halten irgendetwas in der Hand und laufen zielstrebig in eine Richtung. Manche haben sich mit T-Shirts oder Schlauchtüchern vermummt. Aus den Baumkronen fallen die Blätter und geben den Blick frei, auf die Baumhäuser, die durch die Äste funkeln. Von irgendwo hört man Gehämmer. Dort wo das Feld die Bäume säumt, die das Wohnhaus von Eckardt Heukamp einrahmen, waschen sechs Menschen die Teller vom Mittagessen ab.


In der tiefstehenden Herbstsonne wirkt das Camp so geschäftig wie idyllisch.
Nur, dass es eigentlich viel zu warm ist, für Ende Oktober.
Nur, dass die Wespen immer noch die Marmeladengläser beim Frühstück belagern, als wäre es Sommer.
Nur, dass der Blick nur einmal zur Seite weichen muss, um irritiert am Nichts hängenzubleiben. An der riesigen Wunde, die die Schaufelradbagger in die Erde gefressen haben, um ihr die Braunkohle zu entreißen und zu verfeuern.
Nur, dass da eben jene Bagger sind, an manchen Tagen kaum dreihundert Meter vom Protestcamp entfernt, für die Lützerath nur das nächste von über 300 Siedlungen in Deutschland ist, die bereits vom Braunkohleabbau ausgelöscht wurden.


Zuletzt haben wir hier einen riesigen Erfolg erzielt. RWE hat dem Oberverwaltungsgericht Münster zugesagt, nicht wie zuvor geplant Eckardts Hof am 01.11., noch vor dem eigentlich Enteignungsverfahren, dem Erdboden gleichzumachen. Stattdessen mussten sie sich verpflichtet, zu warten, bis das Gericht Eckardts Eilantrag behandelt. Spätestens aber am 07.01. will RWE Fakten schaffen. Nicht warten müssen sie damit, die restlichen Häuser, Bäume, Wiesen und Gärten, die nicht Eckardt gehören, zu zerstören.
Dieses Urteil hat ein weitaus höheres Gewicht, als die Zukunft des Hofes eines Landwirtes. Wenn Lützerath verteidigt wird, dann bleiben 600 000 Millionen Tonnen CO2 im Boden. Wenn Lützerath fällt, ist das unvereinbar mit dem 1,5 Grad Limit.


Das Einlenken von RWE hat nichts mit Einsicht zu tun. Während der Klimakonferenz und den Koalitionsverhandlungen, und mit tausenden Menschen, die sich der Räumung entgegengestellt hätten, wäre die Enteignung Eckardts ein politisches Desaster geworden, dass sich weder RWE noch die Landesregierung leisten können. Der Aufschub ist also ein klarer Erfolg davon, dass Lützerath eben kein Geisterdorf ist, sondern bewohnt, vielleicht belebter denn je. Und zwar von vielen sehr unterschiedlichen Menschen, die Widerstand leisten werden gegen jeden Versuch, unter die Kohle im Dorf ran zu kommen. Es ist ein Erfolg all der Menschen, die Lützerath zu dem gemacht haben, was es heute ist: ein Ort der Verbindung und Veränderung.
Und das sind sehr unterschiedliche Menschen. Was sie eint?
Der Fakt, dass es wahnsinnig ist, dass ausgerechnet Deutschland, eines der Länder mit der größten historischen Schuld an der Klimakatastrophe, mitten in der Klimakrise weiter Kohle verfeuert.
Daneben stehen viele unterschiedliche Gründe, aus denen Menschen hier sind, viele unterschiedliche Perspektiven, die Menschen auf das haben, was hier passiert.
Wenn der Blick übers Camp streift, sieht man alte Gesichter aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, die hier einen neuen Kristallisationspunkt für den sofortigen Kohleausstieg schaffen wollen. Es kommen die Bewohner:innen der umliegenden Dörfer vorbei, die dafür streiten, ihr zu Hause zu behalten. Tischler:innen und Zimmer:innen auf der Walz geben Baukurse. Menschen mit Leidenschaft für Baumhäuser bleiben hier hängen. Manche Menschen stranden hier oder haben keinen anderen Ort an den sie gehen könnten.


Andere sehen diesen Ort als einen Ausgangspunkt für den Kampf gegen den Kapitalismus, der hier und überall auf der Welt Leben und Lebensgrundlagen zerstört.
Aktivist:innen aus der antirassistischen Bewegung wollen hier Aufmerksamkeit für etwas schaffen, dass schon längst klar sein müsste: Der Kampf um Klimagerechtigkeit ist ein antirassistischer Kampf. Und die Klimabewegung muss die Perspektiven von BIPoCs hören und ernst nehmen und sich an den Kämpfen im globalen Süden gegen Neokolonialismus und Umweltzerstörung orientieren, wenn sie mehr erreichen will, als im grün angestrichenen Kapitalismus auf Kosten anderer zu leben. Der Blick, der über das Camp schweift, macht auch noch klar, dass die Menschen hier vielleicht unterschiedlich sind. Aber immer noch zum Großteil weiß. Und damit, wie viel die deutsche Klimabewegung noch lernen muss.


All diese Menschen haben es mit all ihren Unterschieden geschafft, RWE, einem Milliarden schweren Unternehmen, einen kleinen Erfolg abzuringen.
Und dabei wurde noch viel mehr erreicht.
In Lützerath lernen wir uns radikal selbst zu organisieren.
Für Probleme, die uns gemeinsam betreffen, werden hier auch gemeinsam Lösungen gefunden. Hier zu sein ist Teil des Versuches das Problem Garzweiler zu lösen. Aber weil wir hier leben, steht auf dem Camp nicht nur die Hütte des Action Points, der dich dabei unterstützt in Aktionen zu gehen. Sondern auch ein Gartenhäuschen für Erste Hilfe in dem immer jemand ansprechbar ist für medizinische Belangen. Und ein zusammengezimmerte Hütte mit einem großen roten Schild auf dem „Awareness“ prangt.
Das Leben hier funktioniert anders, als die meisten von uns gewöhnt sind. Weil wir versuchen uns ohne Staat und Markt zu organisieren. Wir versuchen, die Beziehungsweisen die Markt und Staat bieten, durch die der praktischen Solidarität zu ersetzen. Und das ist eine ganz schön große Herausforderung.
Einerseits, weil wir uns natürlich dadurch, dass wir in die Reste eines Dorfes am Randes des Tagebaus ziehen, nicht die Gesellschaft verlassen. Die meisten bringen ganz reale Zwänge mit: Wie die Krankenkasse weiter bezahlen? An der Uni eingeschrieben bleiben? Wie die Miete zu Hause weiter zahlen?


Und über allem hängt die Drohung der staatlichen Intervention, in Form eines riesigen Polizeieinsatzes, der innerhalb von wenigen Tagen alles zerstören könnte, was wir hier über Monate aufgebaut haben.
Anderseits existieren diese gesellschaftlichen Strukturen nicht nur als äußere Zwänge. Wir haben sie auch verinnerlicht. Und trotzdem anders zusammenzuleben braucht eine Menge Vertrauen, das erst aufgebaut werden muss. Eine ständige Auseinandersetzung mit eigenen Sozialisierungen und Traumata. Ein vorsichtiger Versuch die Getrenntheit, die uns mit anderen verbinden, zu heilen.
Das alles bedeutet auch Konflikt. Rassismus, Patriarchat und andere Unterdrückungsformen machen nicht vor unserem Protestcamp halt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit den eigenen Privilegien und Unterdrückungserfahrungen, kann schmerzhaft sein. Aber fast immer ist sie lehrreich. So ist Lützerath ein Ort der Erfahrung, ein Ort des Lernens, an dem oft schwer zu fassen ist, in welche Richtung die Reise geht. Aber fest steht, dass unerprobtes ausprobiert wird, neues erfahren wird.
Es ist also eine Herausforderung, hier zu versuchen selbstorganisiert zu leben und zu kämpfen. Wir nehmen diese Herausforderung an, weil wir wissen, dass wir etwas radikal anderes brauchen. Weil wir nicht glauben, dass die Strukturen die das Problem hervorgebracht haben, in der Lage sind, es zu lösen.
Audre Lorde hat es so ausgedrückt: “The master’s tools will never dismantle the master’s house.”
In dem Sinne bedeutet Klimagerechtigkeit auch nicht nur die einzelnen CO2-Quellen zu bekämpfen. Sondern die Strukturen, die das Problem hervorgebracht haben, abzuschaffen und durch neue zu ersetzen.
Wir sehen keine Lösung der Klimakrise im Kapitalismus. Und weil der Staat im Kapitalismus viel zu sehr von der Wirtschaft abhängt, ist die Regierung nicht Adressat unseres Protestes.
Sondern viel mehr alle, die schon gegen die Zumutungen des rassistischen Kapitalismus kämpfen, und all jene die diese Verhältnisse nicht mehr ertragen. Auf die Delegation der Zapatistas, die den weiten Weg ins Herz der Bestie auf sich genommen haben, um mit uns in Lützerath am Feuer zu sitzen und zuzuhören und zu reden, von einer Welt, in der viele Welten Platz haben. Auf die Menschen im Nigerdelta, die seit Jahrzehnten im Kampf darum, dass das Öl im Boden bleibt, ihr Leben riskieren. Auf die Bäuer:innen in Indien, die für eine Landwirtschaft streiken, die den Menschen dient, und nicht dem Profit, und so auch achtsam mit der Erde ist.
Wir setzen auf all die Menschen, die überall auf der Welt für das Leben kämpfen und gekämpft haben.
Das klingt utopisch? Wenn der Ist-Zustand das Überleben der Menschheit infrage stellt, dann ist Utopie das einzig realistische, was uns bleibt.


In dem Sinne: Kommt nach Lützerath! Hier wird jede:r gebraucht. Durch unseren erfolgreichen Widerstand, wurde die Zerstörung aufgeschoben. Die gewonnene Zeit werden wir nutzen, um Lützerath unräumbar zu machen. Am liebsten mit dir.
Denn jedes Brett, dass du hier festschraubst, jeder Teller, den du wäschst, jede Beziehung, die du knüpfst, ist früher oder später ein Hindernis gegen die Zerstörung unser aller Lebensgrundlage.
Und eine Erinnerung daran, dass wir gemeinsam Dinge schaffen können, die vorher unmöglich schienen.

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