Schlüsselergebnisse der Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie zu einem Beitrag Deutschlands zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze

Eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C würde die Risiken und Auswirkungen des Klimawandels gegenüber einer stärkeren Erwärmung erheblich verringern – unter anderem die Gefahr, unumkehrbare Kipppunkte im Klimasystem zu überschreiten. Die Studie des Wuppertal Instituts diskutiert deswegen, welche Möglichkeiten aus heutiger Sicht bestehen, die 1,5-°C-Grenze einzuhalten und will damit zur gesellschaftlichen Debatte über Wege zu deren Erreichbarkeit beitragen.

Komplette Studie

Klimaziele

  • Die aktuellen Klimaziele der Bundesregierung sind nicht vereinbar mit einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C oder auch nur auf deutlich unter 2 °C; Sie würden zu mehr als doppelt so hohen CO2-Gesamtemissionen führen wie ein nach dem Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) 1,5-°C-kompatibler Pfad.
  • Eine Zielsetzung im Bereich von CO2-Neutralität bis 2035 ist basierend auf dem nationalen CO2-Budget nach dem SRU für einen Beitrag zur Einhaltung des 1,5-°C-Ziels notwendig. Der SRU legt dabei zugrunde, dass die Pro-Kopf-Emissionen weltweit gleich verteilt werden und Deutschland keinen überproportionalen Anteil beanspruchen darf.
  • Selbst bei einer Zielsetzung von Netto-Null-CO2-Emissionen bis 2035 wäre in den kommenden Jahren eine stärkere als lineare Reduktion der Emissionen nötig. Eine gleichmäßige, lineare Minderung bis 2035 wäre nicht ausreichend (siehe Abbildung 1).
  • Die deutschen Emissionen müssten also insbesondere in den kommenden fünf Jahren, und damit vor allem in der nächsten Legislaturperiode, dramatisch abnehmen.
  • Die Einhaltung des 1,5-°C-Budgets erfordert CO2-Minderungsziele von mindestens -60 % bis 2025 und mindestens -85 % bis 2030 (jeweils gegenüber 1990).
Abbildung 1: Beispielhafter Emissionspfad zur Einhaltung des deutschen 1,5-°C-Budgets, inkl. aktueller Ziele der Bundesregierung (eigene Darstellung, basierend auf SRU 2020)

[Da es seitens der Bundesregierung keine separaten Minderungsziele (ausschließlich) für CO2-Emissionen gibt, werden in dieser Abbildung die auf alle Treibhausgase bezogenen Minderungsziele der Bundesregierung dargestellt. (In den letzten Jahren machten die CO2-Emissionen rund 88 % der gesamten deutschen Treibhausgasemissionen aus.)]

Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde in der Studie untersucht, was zum Erreichen von CO2-Neutralität bis 2035 in den einzelnen Sektoren notwendig ist.

Energiewirtschaft

  • Um ein klimaneutrales Energiesystem bis 2035 sicherzustellen, erscheint ein Ausbau von Wind- und Solarenergie von zusammen mindestens 25 bis 30 GW pro Jahr sinnvoll.
  • Die aktuellen Ziele der Bundesregierung implizieren einen Ausbau von 9,6 GW pro Jahr, was mindestens um einen Faktor 2,5 zu langsam wäre.
  • Im Durchschnitt der Jahre 2018 und 2019 lag der Ausbau bei 6,3 GW pro Jahr, also bei nur einem Viertel des mindestens notwendigen Wertes.
  • Von hoher Bedeutung ist es, den Ausbau der Onshore-Windenergie wieder in Schwung zu bringen. Hier erscheint ein Ausbau von mindestens 7 und besser 10 GW pro Jahr sinnvoll. Im Schnitt der Jahre 2018 und 2019 wurden aber nur 1,7 GW pro Jahr erreicht; für das Jahr 2020 wird ein Zubau von lediglich etwa 1,5 GW erwartet.
  • Zusätzlich zum inländischen Ausbau der erneuerbaren Energien müssten Importe von im Ausland mit erneuerbaren Energien produzierten klimaneutralen Energieträgern (Wasserstoff, Synfuels) hinzukommen.
  • Der Ausbau von Wind- und Solarenergie in Deutschland könnte etwas geringer ausfallen, falls der Import der synthetischen Energieträger bis 2035 nicht nur in moderaten, sondern sogar in sehr großen Mengen gelingen sollte. Hierfür wären internationale Partnerschaften auf Augenhöhe mit Exportländern notwendig. Selbst dann ergäbe sich aber noch ein inländischer Ausbaubedarf von mindestens 15 GW pro Jahr, was immer noch weit über den aktuellen Zielen der Bundesregierung liegt.
  • Um sicherzustellen, dass der Einsatz von fossilem Gas und Öl bis 2035 auf Null zurückgeht, wäre eine Beimischungsquote für CO2-neutrale synthetische Energieträger hilfreich, zu deren Einhaltung die Unternehmen der Gas- und Ölwirtschaft verpflichtet werden. Diese könnte 2026 bei 10 % beginnen und bis 2035 jedes Jahr um weitere 10 Prozentpunkte erhöht werden, sodass ab 2035 kein fossiles Gas und Öl mehr vertrieben werden darf.
  • Insbesondere für die Sicherstellung der Versorgungssicherheit in der Stromversorgung sowie für klimaverträgliche Industrieprozesse (z. B. Stahlerzeugung) wird Wasserstoff nötig sein. Dieser sollte mindestens zu einem Teil innerhalb Deutschlands mithilfe erneuerbarer Energien produziert werden. Für die inländische Produktion des Wasserstoffs scheint bis 2035 eine installierte Kapazität an Elektrolyseuren in Höhe von 70 bis 90 GW sinnvoll zu sein.2 Im Gegensatz dazu sieht die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung frühestens 2035 eine Leistung von lediglich 10 GW vor.

2 Für die hier vorgenommene Abschätzung der sinnvollen inländischen Kapazität wurden für den Betrieb der Elektrolyseure die in vorliegender Literatur üblicherweise angenommenen knapp 3000 Volllaststunden pro Jahr zugrunde gelegt.

Industrie

In den nächsten zehn Jahren erreicht in einigen energieintensiven Branchen rund die Hälfte der Industrieanlagen das Ende ihrer vorgesehenen Lebensdauer und muss ersetzt werden. Neue Industrieanlagen laufen zum Teil über 50 Jahre lang.

  • Deshalb ist essentiell, dass sich alle neuen Industrieanlagen klimaneutral betreiben lassen.
  • Das reicht alleine aber noch nicht aus, weil einige bestehende Industrieanlagen nach aktuellen Plänen weit über 2035 hinaus laufen sollen. Daher ist für diese Anlagen entweder eine Stilllegung oder eine Umstellung auf nicht-fossile Technologien notwendig.
  • Zur Ermöglichung der Umstellung der Industrie in Richtung Klimaneutralität muss innerhalb weniger Jahre ein Wasserstoff-Pipelinenetz errichtet werden.
  • Eine konsequente Kreislaufwirtschaft durch Re-Use, Re-Manufacturing und Recycling von Produkten würde den Energiebedarf der Industrie erheblich reduzieren und so deren Defossilisierung erleichtern. Zur Förderung der Kreislaufwirtschaft sind Anreize aber auch Standards und Normen essentiell.
  • Ein gegenüber heute deutlich höherer CO2-Preis in der Größenordnung von perspektivisch 180 Euro pro Tonne CO2, wie u. a. vom Forum Ökologisch-Soziale Markwirtschaft diskutiert, würde dafür sorgen, dass alle oder fast alle klimaneutralen Schlüsseltechnologien einen Preisvorteil gegenüber den konventionellen CO2-intensiven Technologien erreichen.
  • Zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit muss gleichzeitig ein effektiver Carbon-Leakage-Schutz für die Industrie eingeführt werden.
  • Um den Einstieg in klimaneutrale Produktionsprozesse zu ermöglichen, sind ergänzend weitere Instrumente notwendig, wie etwa Carbon Contracts for Difference (CCfD).
  • Der Aufbau der Infrastruktur für eine klimaneutrale Industrie muss schon beginnen, bevor die Nachfrage danach vorhanden ist. Andernfalls wird die Zeit für den Umbau nicht reichen.
  • Ebenso reicht die verbleibende Zeit nicht mehr, um technologieoffen alle Möglichkeiten der klimaneutralen Produktion zu erkunden. Entscheidungen müssen jetzt fallen und dann mit größtmöglicher Geschwindigkeit und Entschlossenheit umgesetzt werden.

Verkehr

Der Verkehr in Deutschland hat einen sehr hohen Energiebedarf. Dieser muss für eine Umstellung auf CO2-Neutralität bis 2035 erheblich verringert werden. Verantwortlich für den hohen Energiebedarf ist maßgeblich der Auto- und Lkw-Verkehr – im Vergleich zur Bahn benötigt ein Auto mit Verbrennungsmotor das 4,8-fache an Energie pro Kilometer und Person, der Lkw sogar das 5,6-fache pro Tonne und Kilometer gegenüber der Güterbahn.

Den gesamten Verkehr betreffende Schritte zur Dekarbonisierung sind insbesondere:

  • Verkehrsvermeidung und -verlagerung
  • Signifikant höhere CO2-Preise auf fossile Kraftstoffe
  • Abschaffung der vielzähligen klimaschädlichen Subventionen im Verkehr, darunter die Steuerbefreiung von Flugbenzin, das Dieselprivileg, das Dienstwagenprivileg, Subventionen für Regionalflughäfen und die Bevorzugung für den Straßenbau; ferner eine sozialverträgliche Umgestaltung der aktuell Fehlanreize setzenden Pendlerpauschale.

Für die einzelnen Bereiche des Verkehrs sind für das Erreichen von Klimaneutralität bis 2035 unter anderem konkret notwendig:

Personenverkehr

  • Autoverkehr bis 2035 halbieren, parallel Kapazität des Öffentlichen Verkehrs verdoppeln
  • Zur Verdopplung der Kapazität des Öffentlichen Verkehrs: Förderung des ÖPNV auf 24 Mrd. Euro pro Jahr verdoppeln, jährliche Investitionen des Bundes in Schieneninfrastruktur auf 12 Mrd. Euro pro Jahr verdoppeln
  • Pkw-Bestand in Städten auf 1/3 des heutigen Wertes senken. Dafür Ausbau der Rad- und Fußinfrastruktur und des ÖPNVs, kombiniert mit Push-Faktoren wie City-Maut, Tempolimits und Reduzierung von Fahrspuren und Parkplätzen
  • Ein Moratorium für den Fernstraßenbau wirkt einer wachsenden Abhängigkeit vom Auto entgegen. Im Gegensatz zu einem Moratorium sieht der Bundesverkehrswegeplan 2030 des Verkehrsministeriums den Ausbau allein der Autobahnen um 2000 km vor.
  • Ersetzung der meisten verbleibenden Verbrennungs-Pkw bis 2035, vor allem durch batterieelektrische Fahrzeuge (u. a. wegen der rund dreimal höheren Gesamteffizienz gegenüber Wasserstoff-Pkw). Dafür Steigerung der Neuzulassungen von Elektroautos auf 2 Mio. pro Jahr. Zum Vergleich: 2019 wurden insgesamt 3,6 Mio. Autos neu zugelassen, davon lediglich 63 000 Elektroautos. Zur Umsetzung kann folgendes beitragen:
    • Zulassungsverbot für Verbrennungsmotoren: Bei der Festlegung des Ausstiegsdatums ist zu berücksichtigen, dass der Großteil der Pkw-Flotte bis 2035 aus Elektrofahrzeugen bestehen muss und Pkw mit Verbrennungsmotor ab Zulassung ca. zehn Jahre in Betrieb bleiben.
    • Einführung einer Zulassungssteuer auf Autos nach einem konsequenten Bonus-Malus-System (in Frankreich wurden 20 000 Euro für die Zulassung von besonders klimaschädlichen Pkw festgelegt).

Güterverkehr

  • Verlagerung von 30 % des Lkw-Verkehrs auf die Bahn bis 2035. Dafür unter anderem starke Erhöhung der Lkw-Maut und Verwendung der daraus folgenden Einnahmen für den Ausbau der Schieneninfrastruktur
  • Ersatz der verbleibenden kleinen Lkw, vor allem durch Batteriefahrzeuge
  • Ersatz der verbleibenden Sattelzüge durch Oberleitungs-Hybrid-Lkw; Dafür ist der Aufbau von 8000 km Oberleitungen auf Autobahnen bis 2035 notwendig. Das entspricht dem Zubau von durchschnittlich 550 km Oberleitungen pro Jahr.

Flugverkehr

  • Beendigung des innerdeutschen Flugverkehrs
  • Reduktion des internationalen Flugverkehrs um 25 %, vor allem durch Verlagerung innereuropäischer Flüge auf die Schiene und weitere Etablierung von Online-Konferenzen
  • Verwendung von ausschließlich synthetischen Kraftstoffen für den verbleibenden Flugverkehr ab 2035

Gebäude

  • Zentral fürs Erreichen von Klimaneutralität bis 2035 ist hier eine massive Steigerung der energetischen Sanierungsrate auf die bislang beispiellose Höhe von 4 % pro Jahr. Aktuell liegt diese bei lediglich 1 %, womit selbst das Ziel der Bundesregierung von 2 % weit verfehlt wird.
  • Für die Steigerung der energetischen Sanierungsrate ist ein umfassender Maßnahmenmix notwendig, der von Verpflichtungen zur Sanierung bei Verkauf oder Vererbung bis zu einer wirkungsvollen, sozial gerechten CO2-Bepreisung reicht. Selbst das ist jedoch noch nicht genug, weil Fachkräfte für die Umsetzung der Sanierungen fehlen. Es braucht also zusätzlich eine Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive im Handwerk.
  • Der Einbau fossiler Heizungen muss innerhalb kürzester Zeit, d. h. spätestens in der nächsten Legislaturperiode, beendet werden. Heute liegt der Anteil fossiler Heizungen noch bei fast 80 % aller Neuinstallationen, was das Ausmaß dieser Herausforderung verdeutlicht.
  • Die meisten neu eingebauten Heizungen müssen daher schon in den kommenden Jahren Wärmepumpen sein.

Schlussfolgerungen

Ein fairer Beitrag zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze kann nur noch geleistet werden, wenn die kommende Bundesregierung die Transformation in der oben beschriebenen Geschwindigkeit angeht. Ohne eine historische Fokussierung auf die Reduktion der CO2-Emissionen und eine Priorisierung von Klimaschutz in allen Politikbereichen dürfte das nicht zu schaffen sein.

Die skizzierten vielfältigen parallelen Herausforderungen zur Zielerreichung bis 2035 in allen Sektoren stellen jeweils für sich alleine schon große Herausforderungen dar und erfordern beispiellose politische Anstrengungen. Notwendig ist zudem, den Unternehmen die Möglichkeiten zu geben, den Transformationsprozess anzugehen, ohne ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden. Angemessene Beiträge zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze sind aber vor allem ohne eine breite Zustimmung und Teil-habe der Gesellschaft nicht möglich. Hierfür bedarf es insbesondere einer gerechten, auf soziale Aspekte achtenden Gestaltung der Zielerreichung.

Es sind weniger die technischen Grenzen, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden werden, sondern der gesellschaftliche und politische Wille. Ist dieser gegeben, stehen der Erreichung von CO2-Neutralität bis 2035 auf der Basis heutiger Erkenntnisse keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen.

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