Großbrittanien befindet sich in Aufruhr. Nicht etwa, weil die Regierung als (vermeintliche) Lösung der Energiekrise in Erwägung zieht, 130 neue Ölförderungs-Lizenzen zu erteilen. Auch das kürzlich zurückgezogene Verbot von Fracking ist nicht Auslöser der Aufregung. Ebenso wenig die Behauptung des neuen „Klimaministers“ der Regierung, Graham Stuart, dass die neuen Fracking- und Ölförderungs-Pläne der Regierung „green policies“ und gut für die Umwelt wären. Stattdessen redet das gesamte vereinigte Königreich über zwei junge Frauen, die im Rahmen ihres Protestes gegen diese Politik der Regierung zwei Dosen Tomatensuppe auf den Bilderrahmen eines Van Gogh-Gemäldes in der National Galery geschüttet und sich anschließend auf dem Parkettboden vor dem Gemälde festgeklebt haben.
Enthusiastisch diskutierten zunächst die Medien und kurze Zeit später auch Nutzer*innen in Sozialen Netzwerken darüber, ob diese Art des Protestes legitim und angemessen sei. Das Urteil der Medien fiel schnell, im Fokus der Berichterstattung stand die Legitimität der Aktion, nicht jedoch die Botschaft der Aktivist*innen. Relevanten Informationen, so zum Beispiel, dass sich das Bild in einem Rahmen mit Sicherheitsglas befand und durch die Aktion nur der Bilderrahmen selbst zu Schaden kam, wurde in den Medienberichten kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Ebenso wenig wurde über die Botschaft des Protestes berichtet.
Über den Sinn von Aktivismus
Im Mittelpunkt der Diskussion über die „Just stop Oil!“-Aktivistinnen stand die Frage nach der Legitimität ihrer Aktion. Doch wer beurteilt, ob eine Aktion wie diese angemessen oder unangemessen ist? Im Regelfall erfolgt diese Beurteilung zuerst durch die Medien, die über die Aktion berichten und die Entscheidungsmacht darüber haben, welchen Informationen wieviel Aufmerksamkeit und welchen Stimmen wieviel Präsenz gewährt wird. Damit ist die Richtung der Debatte bereits vorgegeben, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat. Die Medien kritisieren, dass die Aktion zu drastisch, zu radikal oder unangemessen sei. Dabei sind sie mitverantwortlich dafür, dass Aktivist*innen Aktionsformen wie diese überhaupt in Erwägung ziehen. Es waren und sind die Medien, die entschieden haben, dass weniger heiß diskutierte Aktionsformen wie Demonstrationen nach einiger Zeit an Nachrichtenwert verlieren. So ist ein globaler Klimastreik die ersten zwei bis drei Male tagelang Thema der Berichterstattung, doch schon beim vierten oder fünften Mal wird nur noch am Rande darüber berichtet, dass Hunderttausende für mehr Klimaschutz demonstriert haben. Doch der Sinn von Aktivismus besteht darin, Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, welches — ohne Aktionen wie die der „Just stop Oil!“-Aktivistinnen — zu wenig Aufmerksamkeit erhält.
Über die Legitimität von Aktivismus
Wer die Legitimität solcher Aktionen hinterfragt, sollte sich gleichzeitig auch fragen, ob eine weniger drastisch erscheinende Aktion dieselbe Aufmerksamkeit erhalten hätte. Im Anschluss daran können wir uns fragen, ob es angemessen ist, zwei Dosen Tomatensuppe auf das Sicherheitsglas des Bilderrahmens eines berühmten Gemäldes zu schütten — in dem Wissen, dass eine Beschädigung des Gemäldes durch diese Aktion eher unwahrscheinlich ist — um darauf aufmerksam zu machen, dass die Regierung im Begriff ist, mit der Neu-Erteilung von Ölförderungslizenzen und der Erlaubnis von Fracking die zukünftig andauernde Verbrennung fossiler Ressourcen zu zementieren, welche den Auslöser einer existenzbedrohenden Klimakrise darstellt. Wenn wir schon über die Verhältnismäßigkeit eines Protestes diskutieren, dann müssen wir uns auch den Beweggründen dieses Protestes und deren Verhältnismäßigkeit widmen. Und der Frage, warum es solcher Aktionen bedarf, um eine landesweite Diskussion über eine politische Entscheidung dieser Tragweite anzustoßen. Vielleicht deshalb, weil uns die potentielle Beschädigung eines wertvollen Gemäldes offenbar betroffener macht als die reelle Zerstörung des Planeten, den wir als unseren Lebensraum betrachten.